Prof. Dr. Ulrich Kaiser
Professor für Musiktheorie
Hochschule für Musik und Theater München
  Log On   Kontakt   Links   Sitemap

HS Vokalmusik um 1600

Alte Tonarten richtig bestimmen



Videoscript herunterladen

Hauptseminar Vokalmusik um 1600

Thema: ›Alte Tonarten‹ richtig bestimmen

»›Alte Tonarten‹ richtig bestimmen« ist ein Tutorial von Ulrich Kaiser, das für das Hauptseminar »Musik um 1600« an der Hochschule für Musik und Theater München erstellt worden ist (Schwierigkeitsgrad: einfach, Voraussetzungen: Sopran- und Bassschlüssel, Vorzeichen der Dur-Tonarten).

Zur Bestimmung eines Modus (also einer sogenannten ›Alten Tonart‹ wie Dorisch, Phrygisch, Lydisch oder Mixolydisch) sind einige Vorinformationen zum Tonsystem hilfreich. In Musik des 15. Jahrhunderts, also zur Zeit der klassischen Vokal-polyphonie bzw. zu Lebzeiten von Komponisten wie Palestrina und Lassus, war es üblich, eine Komposition mit einem von zwei verschiedenen Tonvorräten zu notieren. Den einen Tonvorrat nannte man »Scala durus«, zu ihm gehörten die Tonklassen c, d, e, f, g, a und h bzw. die Töne der weißen Tasten auf dem Klavier. Der andere Tonvorrat hieß »Scala mollis«. Er bestand aus den Tonklassen c, d, e, f, g, a, b und c, also mit dem b anstelle des Tons h. Der Ton b war damals also keine erniedrigte Variante des Tons h, sondern b durum (also unser heutiges h) und b mollis (unser heutiges b) waren gleichberechtigte Töne. Aus diesem Grunde nannte man die Töne h und b auch Doppelstufe.
Vielleicht haben Sie auch einmal den Trick kennengelernt, über eine Art Dreisatz die Vorzeichen eines Modus zu bestimmen. Das funktioniert deswegen so gut, weil alle Modi in der Theorie nur weiße Tasten verwenden (also mit der Scala durus notiert werden). Weil Dorisch, Phrygisch, Lydisch und Mixolydisch die gleichen Vorzeichen wie C-Dur haben, kann man jeden Modus schnell bestimmen, indem man zuerst das Intervall zwischen den Grundtönen vom untransponierten Modus und C-Dur bestimmt. Anschließend kann man dann vom gesuchten Ton die Vorzeichen der Dur-Tonleiter errechnen, die das bestimmte Intervallverhältnis aufweist.

Das klang jetzt ziemlich kompliziert, ist aber eigentlich ganz einfach. Machen wir es uns an einem Beispiel klar: Dorisch hat die Vorzeichen der Durtonleiter, die eine Sekunde tiefer liegt, also die Vorzeichen von C-Dur. G-Dorisch hat deswegen die Vorzeichen von F-Dur, weil F-Dur eine Sekunde tiefer liegt als g, bzw. ein b als Vorzeichen. Oder ein anderes Beispiel: Nehmen wir Lydisch. Lydisch hat die Vorzeichen der Durtonleiter eine Quarte tiefer, wiederum die Vorzeichen von C-Dur. Es-Lydisch hat daher die Vorzeichen der Durtonleiter, die eine Quarte tiefer liegt, also die Vorzeichen von B-Dur bzw. die Vorzeichen b und es.

Leider gibt es ein Problem, denn in der Praxis ist es bei weitem nicht so einfach wie in der Theorie. Beispielsweise konnte Dorisch mit der Scala durus oder aber auch mit der Scala mollis notiert werden. Und Lydisch konnte ebenfalls mit und ohne b-Vorzeichnung notieren. Die sogenannten charakteristischen Intervalle wie die »dorische bzw. große Sexte« oder die »lydische bzw. übermäßige Quarte« sind daher kein sicheres Indiz, wenn man den Modus einer komponierten Musik bestimmen möchte.

Genau genommen eignet sich die Methode daher auch nur, wenn man sich auf eine Probe in der Schule oder auf eine Klausur einer Aufnahmeprüfung vorbereitet. Denn da werden gerne die Vorzeichen von den sogenannten ›Alten Tonarten‹ ohne Bezug auf irgendwelche Musikbeispiele abgefragt.

Das Problem lässt sich jedoch umgehen, indem man die Modi nicht auf die bisher gezeigte Art bestimmt. Bei der alternativen Vorgehensweise ist es jedoch Voraussetzung, dass sich eine Finalis ermitteln lässt (was sich in der Praxis manchmal als schwierig und zuweilen sogar als unlösbares Problem erweisen kann). Lässt sich jedoch eine Finalis ermitteln, bestimmt man als erstes die Terz über der Finalis anhand der Generalvorzeichnung. Ist diese klein, steht noch eine Entscheidung zwischen Dorisch und Phrygisch aus. In diesem Fall hilft ein Blick auf die Sekunde über der Finalis, denn die ist im Dorischen groß, im Phrygischen klein. Ist die Terz über der Finalis hingegen groß, betrachtet man anschließend die Sekunde unter der Finalis, denn die ist im Lydisch klein und im Mixolydisch groß.

Na ja, das klang jetzt zwar auch nicht viel einfacher, aber wenn es zum richtigen Ergebnis führt… Probier‘ die Methode doch mal aus anhand der vierstimmigen Motette »Benedicta sit« von Palestrina und nimm als Noten eine praktische Chorausgabe.

Gut, nehmen wir die chorpraktische Ausgabe der vierstimmigen Motetten Palestrinas von Hermann Bäuerle. Man sieht gleich an der Vorzeichnung, dass der Chorsatz vom Herausgeber transponiert worden sein muss, denn Sie erinnern sich: früher wurde nur mit der Scala durus – also ohne Vorzeichen – bzw. der Scala mollis – also mit einem b – notiert. Die Finalis lässt sich jedoch recht gut bestimmen, denn der Chorsatz beginnt im Alt mit einem es, dem dann der Einsatzton b im Sopran und Tenor folgt. Darüber hinaus endet die Motette mit einem Es-Dur-Klang. Die Finalis es lässt sich also mit einiger Sicherheit bestimmen. Als nächstes ermitteln wir anhand der Generalvorzeichnung b, es und as die Terz über es, und die ist groß. Wir sind also auf dem rechten Ast des Diagramms und müssen daher nun die Sekunde unter der Finalis betrachten. Da unter dem es das d liegt, können wir sagen, dass wir eine Komposition in Lydisch vor uns haben. Vermutlich wurde die Motette früher einen Ton höher gesungen, also mit f beginnend und endend. Ein Vergleich mit der alten Gesamtausgabe bestätigt unsere Vermutung, denn hier finden wir das Stück mit Finalis f und einem b – also mit der Scala mollis – notiert. Hätten Sie es gedacht? Es gibt lydische Kompositionen, die aussehen, wie F-Dur und dorische Kompositionen, die aussehen, wie d-Moll. Klingt komisch, ist aber so...
Diese zuletzt gezeigte Vorgehensweise hilft in sehr vielen Fällen und ist daher der eingangs beschriebenen Methode vorzuziehen. Wissenschaftlich gesehen sind alte Tonarten jedoch ein sehr komplexes Zusammenspiel aus der Vorzeichnung, Anfangs- und Schlussgestaltungen, aus Melodieumfängen und Melodiewendungen (sogenannten »Psalmtönen«) sowie aus Kadenzorten, die den Verlauf der Komposition bestimmen. Zum zuletzt genannten Punkt können Sie sich übrigens ein weiteres Video in diesem Kanal anschauen.
Vielen Dank für’s Zuschauen und bis zum nächsten Video!

Weitere Open Educational Resources zum Thema auf musikanalyse.net