Prof. Dr. Ulrich Kaiser
Professor für Musiktheorie
Hochschule für Musik und Theater München
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Gedanken zum Fach Musiktheorie
(und zu Open Educational Resources) 2021

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Gedanken zum Fach Musiktheorie (und zu Open Educational Resources) 2021

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Liebe Studierende, liebe Kolleginnen und Kollegen,

es freut mich sehr, dass ich zu diesem Symposium eingeladen worden bin und Sie damit Interesse an meiner persönlichen Sichtweise auf die zukünftige Ausrichtung des Fachs Musiktheorie bekundet haben. Vermutlich wissen Sie, dass ich eine Außenseiterposition vertreten werde, denn im Vergleich mit meinen drei Kollegen hindert mich an einer internationalen Orientierung mein schlechtes Englisch, Clemens Kühn sagte mir einmal, ich würde das Verlagswesen ruinieren, und in diesem Semester hat mir ein Münchener Kollege entgegnet, dass meine Reform-Vorstellungen für den Lehramtsstudiengang sein Alptraum seien. Die Gedanken, die ich Ihnen als erstes darlegen werde, sind in der Tat nicht schön und haben mich persönlich vor einigen Jahren sogar in eine emotionale Krise geführt. Im Anschluss daran werde ich Ihnen darlegen, welche Überlegungen mich wieder mit meinem Fach ausgesöhnt haben, und ich hoffe, dass Ihnen diese Perspektive vielleicht auch bei der Ausrichtung des Fachs Musiktheorie in Trossingen eine Hilfe sein kann. Darüber hinaus möchte ich um Verständnis dafür bitten, wenn ich mich in meinem Vortrag nur auf Musiktheorie beziehen werde, da in München Musiktheorie und Gehörbildung seit Roland Mackamul curricular und personell unabhängig voneinander sind und ich aufgrund meiner Stellenbeschreibung nur Zuständigkeit für das Fach Musiktheorie beanspruchen möchte.

Vor ein paar Jahren geisterte einmal die Frage durch das Netz, an wen man sich wohl länger erinnern wird: an Bill Gates oder an Steve Jobs. Natürlich rüsteten sich auf der einen Seite die Windows-User, auf der anderen die Apfel-Apologeten für die Schlacht, doch die Antwort ließ keine Auseinandersetzung zu. Denn nach dieser wird man sich selbstverständlich an Bill Gates langfristiger erinnern, weil der sich für Hightech-Toiletten in Entwicklungs- und Schwellenländern engagiert hat. Diese billigen und nachhaltigen Sanitärsysteme können Flüssigkeit und Fäkalien trennen und das Spülwasser wieder säubern, so dass es sich zum Händewaschen eignet, wobei die gesammelten Fäkalien wiederum zur Gewinnung von Dünger verwendet werden können.

Doch was hat diese Geschichte mit Musiktheorie bzw. dem heutigen Thema zu tun? Die Frage fiel mir beim Punkt Nr. 3 »Grundsatzfragen« Ihrer Stichpunktliste ein, denn so, wie der Streit um Betriebssysteme heute nicht mehr aktuell ist, weil Bildbearbeitung und sogar das Komponieren mit einer Digital Audio Workstation bereits im Browser – also unabhängig von Betriebssystemen – funktionieren, halte auch ich den Streit um musiktheoretische Methoden für überholt. Lange Zeit war die Funktionstheorie vorherrschend – dank Ludwig wissen wir auch warum – dann kamen die graphischen Analysen nach Schenker und über das Multitalent Allan Forte auch ein wenig Pitch-class-set-Theory. Eine Erweiterung des Repertoires brachten die Partimenti und zeitlich als letztes die Tonfeldanalyse nach Simon sowie die amerikanischen Sonatentheorien von Caplin und Hepokoski/Darcy. Darüber hinaus habe ich in der Gesellschaft für Popularmusik viele technische Methoden zur Analyse von Musik kennengelernt. Leider gibt es keine Kausalbeziehung zwischen dieser Methodenvielfalt und der Vielfältigkeit einer Analyse. Denn Eifer und Begeisterung für eine bestimmte Methode verdecken meines Erachtens die Frage danach, was aus dem Blick gerät, wenn man sie verwendet. Methoden selektieren – wie auch unsere Wahrnehmung – auf kontingente Weise, und für mich ist die Frage entscheidend, ob das, was eine Methode oder mein Vokabular leisten können, zu dem passt, was ich an Musik zeigen möchte. Vor diesem Hintergrund fallen mir gute Antworten ein, warum Studierende darüber reflektieren können sollten, wo, wann, wie und warum Musik analysiert wird. Eine Antwort auf die Frage jedoch, ob die systematische Anwendung einer musikanalytischen Methode überhaupt noch Gegenstand des Pflichtfachs Musiktheorie sein sollte, fällt mir dagegen schwer. Denn wenn ich zum Arzt gehe, erwarte ich ja auch keine Belehrungen über die Komplexität medizinischer Behandlungsmethoden, sondern eine professionelle Diagnose, die mir Hoffnung auf Lösung eines gesundheitlichen Problems gibt. Welche Folgen hätte es, würde man eine analoge Erwartungshaltung gegenüber dem Pflichtfachunterricht Musiktheorie formulieren? Sollte eine Musikerin im Orchester, die dafür bezahlt wird, eine Beethoven-Sinfonie nach den Vorstellungen einer Dirigentin zu spielen, diese Sinfonie tatsächlich eigenständig analysieren können? Sollte ein Schulmusiker, der für den Unterricht ein Werk der Romantik vorbereiten muss, seine Didaktik wirklich auf der Basis einer eigenständigen Werkanalyse entwickeln? Das alles klingt toll, ist jedoch zeitlich nicht realisierbar. Meiner Erfahrung nach lassen sich diese Kompetenzen weder in den ungefähr 40 Veranstaltungen des Pflichtfachunterrichts eines künstlerischen Studiengangs vermitteln, noch haben Referendare und Schullehrerinnen angesichts ihrer Arbeitsbelastung die Zeit, sich mit der Musik ihrer Unterrichtseinheiten analytisch eingehend zu beschäftigen.

Ich selbst habe im Vorwort meines Choralsatz-Buchs ein Zitat Goethes verwendet. Nach diesem … sehe man die Höhe des Künstlers nicht besser, als wenn man versucht, ihm einige Stufen nachzuklettern. In diesem Sinne müsste ich heute glücklich sein über meine Kollegen in München, die sich als feste Burg gegen den Verfall kunsthandwerklicher Kompetenzen verstehen. An der Hochschule für Musik und Theater München werden Stilübungen noch als wesentlicher Bestandteil aller Studiengänge gepflegt, in den Lehramtsstudiengängen sogar noch ganze Motteten, Fugen, Sonaten oder Rocksongs geschrieben. Um etwas konkreter werden zu können, möchte ich Ihnen die Ausarbeitung einer Tonsatzaufgabe vorspielen:

Audio-Beispiel Blob-Opera

Das Original habe ich etwas gekürzt, denn ein kleiner Abschnitt reicht aus für das, was ich hier ansprechen möchte. In welchen Studiengängen würden Sie einen solchen Chorsatz für sinnvoll erachten? Wo würden Sie vermuten, dass er entstanden ist? Wieviel Zeit wäre Ihrer Meinung nach notwendig, um die für eine solche Ausarbeitung erforderlichen Kompetenzen erwerben zu können? Und liebe Studierende, wie fänden Sie es, wenn Sie solche Sätze mühelos produzieren könnten? Wieviel Zeit wären Sie bereit aufzuwenden, um die dafür notwendigen satztechnischen Fähigkeiten zu erlangen?

Die eingangs erwähnte Entgegnung, ich würde das Fach ruinieren, war Ausdruck des Entsetzens über meinen Vorschlag, in den Prüfungen und Seminaren des Lehramtsstudiengangs für Grund-, Haupt- und Realschulen neben Stilübungen alternativ auch fachdidaktische Inhalte zuzulassen, also zum Beispiel, wie man Dreiklänge unterrichtet und warum es angemessener wäre, von einem C-Dur-Akkord als von einem C-Dur-Dreiklang zu sprechen. Mein Vorschlag gründet in der Überzeugung, dass die Fähigkeit zum Schreiben von Tonsätzen nicht nur für die meisten Studiengänge und Berufsziele überschätzt wird, sondern auch im Hinblick auf die aktuellen technischen Entwicklungen. Als nächstes sehen Sie, welchem Kontext der eben gehörte Tonsatz entstammt:

Video-Beispiel Blob-Opera

Der Kontext heißt Blob-Opera bzw. Sie haben ein Screenvideo einer Javascript-Browser-App gesehen, mit der Google auf witzige Weise demonstriert, was in Sachen Künstlicher Intelligenz und Musik schon so alles geht. Sie können an jedem der Gesangs-Tropfen mit der Maus ziehen, und was Sie zu der auf diese Weise geführten Stimme hören, ist ein in Echtzeit errechneter zwei-, drei- oder vierstimmiger Satz. Fantasieren wir diese Entwicklung etwas weiter: Stellen Sie sich vor, Sie könnten in Vorbereitung eines Musikunterrichts für die 10. Jahrgangsstufe auf diese Seite gehen, würden Anzahl und Ambitus der Stimmen einstellen, die Tonart auswählen, ein Kreuz bei der Checkbox ›mit Noten‹ setzen und sich dann Sounddatei sowie Noten als PDF und XML-File für den Schulchor herunterladen. Oder Sie könnten für einen Hausmusikabend Art und Anzahl der Instrumente, den Schwierigkeitsgrad für jede einzelne Stimme, die Tonart sowie eine bestimmte Stilistik angeben. Würden Sie es auch dann noch für sinnvoll erachten, das halbe Studium dranzugeben, um etwas zu erlernen, was eine KI wahrscheinlich schon jetzt besser macht als 90% der Studierenden und in 10 Jahren wahrscheinlich besser als 90% der Lehrenden? Ich möchte Ihnen noch ein weiteres gesampeltes Audiobeispiel zumuten:

Audio-Beispiel AIVA

Im Jahr 2016 wurde AIVA gegründet, seit 2019 gibt es ein Internetangebot des Unternehmens. Hinter AIVA steht eine KI, die das Komponieren angeblich von Bach, Beethoven und Mozart erlernt hat. Die Grundstruktur des Samples, das Sie gerade gehört haben, hat AIVA komponiert, und seit knapp einem Jahr besitze ich einen Pro-Account beim Unternehmen, nur um mich über die Entwicklungen in diesem Bereich zu informieren. Noch fühle ich mich der Maschine überlegen, aber ich bin mir sicher: der Judgement Day rückt näher, an dem AIVA ein komplexes kompositorisches Bewusstsein entwickeln wird. Leider kann man im Moment wirklich dabei zusehen, wie sich das Kreative unserer Arbeit langsam in Algorithmen auflöst und die Arbeit selbst auf Mausklicks zusammenschrumpft, was übrigens, und diese Feststellung ist mir sehr wichtig, für den künstlerischen Bereich und das Beherrschen von Instrumenten gleichermaßen gilt. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich schätze aufgrund meiner Sozialisation das Schreiben von Arrangements und Gelegenheitskompositionen sehr, aber ich schätze auch das Töpfern von Vasen. Doch sollte ich eine Vase für den Haushalt benötigen, würde ich in ein Fachgeschäft gehen oder im Internet bestellen und käme wahrscheinlich nicht auf die Idee, deswegen einen Töpferkurs an der VHS zu belegen. Dass wir im Gegensatz dazu noch alle Musikstudierenden mit musiktheoretischen Töpferkursen beglücken wollen, liegt für mich einzig und allein daran, dass die Ablösung des Töpferhandwerks durch die industrielle Fertigung Geschichte ist, wohingegen KI-basierte Musikproduktion nach Zukunft klingt und deshalb in der Gegenwart musiktheoretischer Reflexion noch nicht angekommen ist.

Nach meinen unbequemen Überlegungen zu den Themen Analyse und Tonsatz/Stilübung möchte ich hier noch einen weiteren negativen Gedanken entfalten. Sie werden meines Wissens in Trossingen hochwertige Musiktheorie-Stellen ausschreiben können und haben in Ihren Stichpunkten nach ›Musiktheorie als Pflichtfach‹ und hier speziell nach der Motivation gefragt. Ich verstehe Ihre Frage jetzt bewusst falsch, wenn ich zugebe, wenig motiviert zu sein, einen Unterricht zu geben, in dem der fachliche Diskurs an mangelnden Deutschkenntnissen, einer unregelmäßigen Teilnahme oder an einer Haltung scheitert, in der sich die Geringschätzung meines Faches durch das künstlerische Personal spiegelt. Deswegen wird dieser Unterricht vielenorts auch nicht von Professorinnen und Professoren gegeben. Diese widmen sich verständlicher Weise lieber dem Hauptfachunterricht und dem Unterricht in den Lehramtsstudiengängen. Lassen Sie mich das durch eine – zugegebenermaßen pointierte – Grafik veranschaulichen: Sie sehen hier eine Professur für das Fach Musiktheorie, die sich in erster Linie für den Hauptfachunterricht Musiktheorie verantwortlich fühlt. Vernachlässigt man jene Studierenden, die diesen Studiengang als Zweit- oder Drittstudium und zur Bewusstseinserweiterung studieren, werden die Absolventinnen und Absolventen des Studiengangs zuerst wahrscheinlich einmal Musiktheorie für die künstlerischen Pflichtfächer im Lehrauftrag geben und nach 10 bis 15 Jahren mit viel Glück dann im Rahmen einer Professur unterrichten, die dann natürlich wieder die Verantwortung für das Hauptfach Musiktheorie trägt. Ein perfektes Beispiel für eine gelungene Autopoiesis und Selbstreferenz. In München bindet der Unterricht für sechs Hauptfachstudierende aktuell 19 SWS, also eine volle Stelle, was man mal zwei nehmen muss, da die Gehörbildung bei uns ja extra zählt. Aus inhaltlichen Gründen habe ich mich aus dem Unterricht im Hauptfach Musiktheorie zurückgezogen, spezialisiert bin ich auf die Ausbildung in den Lehramtsstudiengängen. Beunruhigt haben mich daher Überlegungen, die Ausbildung des gymnasialen Lehramts für Musik an die Universitäten zu verlegen, wobei ich vermute, dass man in der Pädagogik nicht traurig wäre, wenn man die Dominanz der künstlerischen Fächer zusammen mit der Musiktheorie an den Hochschulen zurücklassen könnte. Oder, um eine ganz aktuelle Befürchtung zu skizzieren, lässt sich auch nicht ausschließen, dass der schon lange kränkelnde Risikopatient ›Schulfach Musik‹ an den Langzeitschäden des Corona-Virus zugrunde geht und vielleicht im Verbund mit Kunst und Ethik als neues Fach mit weitaus weniger fachwissenschaftlichen Anteilen wieder aufersteht. Brauchen wir angesichts eines unbefriedigenden Pflichtfachunterrichts, Elfenbeinturm-Selbstreferenz und sich vielleicht radikal wandelnder Lehramtsstudiengänge wirklich noch Professuren für das Fach Musiktheorie?

Meine Ausführungen lassen sich leicht kritisieren, denn sie sind einseitig und basieren auf Ungewissheit, da niemand sagen kann, wie sich die Dinge tatsächlich entwickeln werden. Mit Adorno gesprochen gleicht daher meine Perspektive dem Blick in die Sonne, die alles Lebendige zu versengen in der Lage ist. Ich bekomme tatsächlich oft gesagt, dass meine Überlegungen, von der Politik gehört, als Vorwand zur Entledigung unliebsamer Kosten genutzt werden könnten. Allerdings könnte ich mich auch mit Adorno verteidigen, denn nach ihm wiegt der Schaden, Missstände zu benennen, nie mehr, als wenn man die Denunziation des Schadens dem Teufel überlässt.

Im Folgenden möchte ich Ihnen nun jene Gedanken darlegen, die bewirkt haben, dass ich heute auch über die konkreten Unterrichtsveranstaltungen mit meinen Studierenden hinaus wieder Sinn in meiner Arbeit sehe. Hierzu möchte ich noch einmal auf die rasanten technischen Entwicklungen zurückkommen, die ich vorhin im Zusammenhang mit der Blob-Opera erwähnt hatte. Denn die Webtechnologien entwickeln sich so rasant, weil sie nicht auf dem Kult um Personen und Firmen, sondern auf dem Community-Gedanken basieren. Firmen wie Google, Microsoft, Facebook usw. haben nämlich erkannt, dass eine Open-Source-Community weitaus flexibler und leistungsfähiger ist als jede hochbezahlte Programmierabteilung. Googles Browser Chrome beispielsweise basiert auf dem freien Chromium-Projekt, Teil des Chromium-Projekts ist die Render-Engine Blink, die wiederum von Google, Intel, Opera Software und Samsung entwickelt wird und die heute auch im Edge-Browser von Microsoft verbaut ist. Microsoft wiederum hat GitHub gekauft und unterhält damit die wohl wichtigste Plattform für freie Software im Internet, von der man sich auch die Open-Source-Projekte von Google herunterladen kann. Natürlich verschwimmen die Grenzen zwischen den Firmen dabei keineswegs, aber die Geheimhaltung von Code gehört bis auf Ausnahmen wie dem Search-Algorithmus von Google in der Regel nicht mehr zum primären Geschäftsmodell großer High-Tech-Firmen. War man vor gut 20 Jahren noch auf teures Expertenwissen angewiesen, wenn man eine eigene Homepage entwickeln und pflegen wollte, findet man dieses Know-How seit ungefähr 10 Jahren ganz einfach im Internet. Und die Bündelung der Kräfte kreativer Programmierer ist in meinen Augen dafür verantwortlich, dass im digitalen Bereich die Entwicklungen derzeit viel schneller sind als im gesellschaftlichen.

Meine Überzeugung ist es, dass die Musikhochschulen im Allgemeinen und die Musiktheorie im Besonderen vom Vorbild des ›community driven content‹ lernen können. Die Musikhochschulen haben ein immenses Potential, das derzeit jedoch primär die Kreativwirtschaft bedient. Konzerte, Orchester, Aufnahmen, Aufführungen – fast alles ist kostenpflichtig, wodurch sich der elitäre Weg bis zum Studium auch danach als schmaler Pfad für Privilegierte fortgesetzt. Ich habe vorhin die provokative Frage gestellt, wozu man Analyse, Stilübungen und Musiktheorieprofessuren braucht. Mit dem Blick auf das Ökosystem Musikhochschule habe ich immer das Gefühl, in eine Verteidigungshaltung gedrängt zu werden, aus der Perspektive anderer Gesellschaftsbereiche sieht das schon ganz anders aus. Meiner Erfahrung nach besteht ein Bedarf an Musiktheorie und zwar an Stellen, die ich vor ein paar Jahren noch überhaupt nicht im Blick hatte. Meine fünf Bücher im Bärenreiter-Verlag wurden in 25 Jahren ungefähr 25.000 Mal verkauft, vermutlich an Musikstudierende sowie Musiklehrerinnen und Musiklehrer. Dagegen wurden in knapp 10 Jahren meine offenen Lernmaterialien knapp eine Million Mal heruntergeladen. Das Tutorial für den Bachchoral beispielsweise war eigentlich nur für meinen Blended-Learning-Unterricht an der Musikhochschule gedacht bzw. als Angebot für meine Studierenden, sich nicht mein Buch zu diesem Thema kaufen zu müssen. Vor einigen Jahren erhielt ich allerdings eine Danksagung inklusive Aufnahme von einem Posaune spielenden Vater, der einen Choralsatz für einen Laternenumzug im Kindergarten geschrieben hatte. Vom 80-jährigen Komponisten über einen deutschsprachigen Studenten in Neuseeland, die Musiklehrerin einer Deutschschule in Singapur bis zum Laienorchester in meiner Umgebung werden meine unter kulturell freier Lizenz zur Verfügung gestellten Materialien genutzt, und beinahe jede Woche bekomme ich eine freundliche bis überschwängliche Rückmeldung von Menschen, die sich gefreut haben, etwas über Musiktheorie lernen zu können. Dieser Arbeit kann ich mich nur deshalb widmen, weil ich Professor bin, ausgestattet mit einem privilegierten Deputat und abgesichert durch eine krisensichere Bezahlung.

Im Vorangegangenen habe ich Ihnen einige Probleme und eine Problemlösung dargelegt. Das Ziel meiner Arbeit lässt sich selbstverständlich generalisieren und von meiner Person losgelöst formulieren. Die Deutsche UNESCO-Kommission forderte z.B. 2019 die »Förderung effektiver, inklusiver, chancengerechter, zugänglicher und hochwertiger« Open Educational Resources oder kurz: OER. Dazu sollen »Bildungsmaterialien, deren Entwicklung öffentlich finanziert wurde, unter eine offene Lizenz gestellt werden«, was sich durch eine Professur sicherstellen ließe, zu deren Dienstaufgaben auch die Erstellung von OER gehören würde. Im Beschluss des Senats der Hochschulrektorenkonferenz vom 15. März 2016 wird den Hochschulleitungen darüber hinaus empfohlen, sich mit OER als Teil der neuen Kollaborationskultur auseinanderzusetzen, damit unter anderem das Teilen von Lehrmaterialien zu einer breiteren Sichtbarkeit von Lehre beitragen kann. Damit allerdings der Einsatz von OER in der Hochschullehre tatsächlich einen Mehrwert erzeugen kann, wird von der HRK eine curriculare und didaktische Einbettung von OER in die Studiengänge gefordert. Auch diese Forderung legt eine Professur mit einer Verantwortung für OER nahe, denn nur so wäre eine ausreichende Amtskompetenz gewährleistet, um Änderungen in den musiktheoretischen Curricula und eine Kompetenz im Umgang mit OER bewirken zu können. Da die Anpassung an unterschiedliche Lernumfelder ein wesentliches Anliegen von OER sind, lassen sich aus dieser Perspektive nun fast alle genannten Punkte ihrer Stichpunktliste quasi in einem Rutsch beantworten. Denn OER-Materialien sollten natürlich bestmöglich den Erfordernissen der Studiengänge und den Voraussetzungen der Studierenden angepasst sein, was differenzierte Materialien für Orchesterinstrumente, Klavier, Gesang, Lehramt, das Verbreiterungsfach Jazz-Pop sowie Musikdesign einschließt. Des Weiteren sollten sie natürlich auf öffentlich erreichbaren Lernplattformen angeboten werden und zwar nicht nur für Studierende, sondern für alle Interessierten auch außerhalb der Hochschule. Dass die OER-Materialien dann in Blended-Learning-Settings genutzt werden können, ist eine Option, welche die Lehrenden des Fachs individuell, themen- und situationsabhängig entscheiden können und sollten. Darüber hinaus wäre es jedoch unabhängig von der individuellen Unterrichtsform allen Studierenden möglich, die bereitgestellten Materialien im Rahmen ihres Studiums und auch danach zu nutzen.

Sollten Sie in Betracht ziehen, diesen Aspekt in Ihrer Ausschreibung zu berücksichtigen, bleibt aus meiner Sicht ein einziges Problem: Es wird aktuell nicht leicht sein, eine geeignete Person für ein solches Profil zu finden. Denn die Creative-Commons-Lizenzen, welche die Grundlage für freie Lehr- und Lernmittel bilden, sind im Moment noch inkompatibel mit dem Selbstverständnis der meisten Musikschaffenden, die so konditioniert sind, dass sie es als ihr gutes Recht ansehen, ihre kreativen Leistungen privat zu verwirtschaften. Das empfinde ich keineswegs als selbstverständlich, denn wenn ein Biochemiker etwas in der Arbeitszeit erfindet, ist seine Leistung Eigentum der Firma und wird von dieser patentiert. Warum eigentlich gehören die Leistungen der Professorinnen für Komposition, Filmmusik, Popularmusik, Instrumentalmusik sowie der Musiktheorie nicht den Musikhochschulen bzw. ›der Firma‹, das heißt dem Staat und damit der Allgemeinheit? Ein Professor hat einen privilegierten Job, warum kann man in einer Berufungsurkunde, die eine lebenslange Sicherheit gewährt, nicht einfach festlegen, dass alle in der Arbeitszeit erstellten Kreativleistungen unter einer Creative-Commons-Lizenz an die Allgemeinheit zurückgegeben werden müssen? Die Allgemeinheit zahlt ja schließlich für diese Leistungen in Form von Bezügen und Pensionen. Müsste ich eine Ausschreibung formulieren, würde ich daher neben einem ausreichenden Fachverständnis in jedem Fall tiefgehende didaktische und digitale Kompetenzen sowie einschlägige Erfahrung im Umgang mit Creative-Commons-Lizenzen erwarten. Und da sich meiner Meinung nach in den nächsten 20 bis 30 Jahren sehr viel aufgrund der Digitalisierung für uns ändern wird, wären aus meiner Perspektive Teamfähigkeit, Aufgeschlossenheit und Beweglichkeit unverzichtbare Eigenschaften für eine Person, der man die Verantwortung für die Entwicklung des Fachs Musiktheorie für einen längeren Zeitraum überträgt.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!